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Auf der Suche nach den Prinzipien, oder
Warum die Geisteswissenschaften auf dem Rückzug sind (2004)
pp. 433-454
Abstract
Als Geisteswissenschaftler ist man in der Defensive. Aus irgendeinem Grunde hat man zu irgendeiner Zeit seines Lebens bestimmte Gegenstände, Sprache, Literatur, Geschichte, Kunst, Musik faszinierend gefunden und sich entschieden, seinen Lebensunterhalt mit ihrer Erforschung zu verdienen. Wäre dies ein bloßes Steckenpferd, so bedürfte es keiner sonderlichen Rechtfertigung. Aber erstens ist es ein Broterwerb, den andere bezahlen. Es ist aber zumindest nicht offenkundig, weshalb Frau Lehmann aus Zepernick und Herrn Schulte aus Feldmoching eine solche Tätigkeit mit ihren mühsam verdienten Steuer groschen finanzieren sollen. So kann man sich denn einfach ducken, in der Hoffnung, daß niemand danach fragt, oder aber man muß sich, nicht zuletzt vor sich selbst, gewisse Legitimationen ausdenken — beispielsweise, daß wir eine Kulturnation sind und kein Haufen von Barbaren, der sich nicht um seine Sprache, Literatur, Geschichte, Kunst und Musik schert; oder daß die Ergebnisse dieser Forschung nicht bloß die Neugier der Forschenden befriedigen sollen, sondern den vielen, die sie bezahlen, auch eine Orientierung im Leben zu geben vermögen. Zweitens muß man rechtfertigen, weshalb diese Tätigkeit überhaupt eine wissenschaftliche ist, im Vergleich etwa zur Physik, Chemie, Biologie und anderen Naturwissenschaften. Auch bei Forschungen auf diesen Gebieten, den klassischen Naturwissenschaften also, ist nicht in jedem Fall zu sehen, wieso sie für andere als die Forscher selbst interessant und von Nutzen sein sollen, und es fehlt nicht an abstrusen Rechtfertigungen (»ohne die Quantenmechanik wäre die moderne Chiptechnologie nicht möglich«).
Publication details
Published in:
Klein Wolfgang (2015) Von den Werken der Sprache. Stuttgart, Metzler.
Pages: 433-454
DOI: 10.1007/978-3-476-05420-3_18
Full citation:
Klein Wolfgang (2015) Auf der Suche nach den Prinzipien, oder: Warum die Geisteswissenschaften auf dem Rückzug sind (2004), In: Von den Werken der Sprache, Stuttgart, Metzler, 433–454.