Communities of Dialogue Russian and Ukrainian Émigrés in Modernist Prague

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199213

Wozu braucht man eigentlich Flexionsmorphologie? (2003)

Wolfgang Klein

pp. 309-336

Abstract

Griechisch und Latein sind stark flektierende Sprachen: pous — podos, cado — cecidi — casus, wir haben es mit Widerstreben zu jener Zeit, mit Stolz und Bewunderung in der Rückschau gelernt (›forsan et haec olim meminisse iuvabit‹, Aeneis I). Und was man mühselig gelernt hat, wird man nicht für unwichtig halten wollen. So wundert es denn nicht, daß in der abendländischen Tradition der Sprachwissenschaft, jener Tradition also, die unsere Vorstellungen von der Struktur natürlicher Sprachen bis heute geprägt hat, der Begriff der ›Grammatik ‹weithin gleichbedeutend mit ›Flexionsmorphologie ‹war. Im Donat, im Priscian geht es vor allem um Deklination und Konjugation, und selbst viele Erscheinungen, die wir heute der Syntax oder der Semantik zurechnen, wie etwa die Argumentstruktur oder das Tempus, sind in erster Linie unter morphologischen Aspekten behandelt worden: uti und cupidus verlangen den Genitiv, parcere und pro den Dativ, amare und contra den Akkusativ, cum und sine den Ablativ. Der Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft wird durch bestimmte Flexionsformen des Verbs ausgedrückt: ›tempus ‹ist gleichermaßen eine Flexionskategorie wie ein fundamentales Konzept der menschlichen Erfahrung und des menschlichen Denkens. Die ersten Grammatiken der ›Volkssprachen ‹leben ganz in dieser Vorstellung, und der offensichtliche Umstand, daß die meisten dieser Sprachen ein weniger reich ausgebildetes Flexionssystem hatten als Griechisch oder Latein wurde allgemein als Zeichen des Verfalls betrachtet.

Publication details

Published in:

Klein Wolfgang (2015) Von den Werken der Sprache. Stuttgart, Metzler.

Pages: 309-336

DOI: 10.1007/978-3-476-05420-3_12

Full citation:

Klein Wolfgang (2015) Wozu braucht man eigentlich Flexionsmorphologie? (2003), In: Von den Werken der Sprache, Stuttgart, Metzler, 309–336.